Freitag, 4. März 2016

Das kleine Füßchen


Eine wahre Weihnachtsgeschichte. Ein Frauenarzt führt uns zurück in eine längst vergangene Zeit, als ein Kaiserschnitt noch nicht zum Alltag gehörte, zu dem Tag, an dem er einem kleinen Mädchen auf die Welt half Er nannte seine Geschichte:

„Das kleine Füßchen“

Sie werden schnell verstehen, weshalb ... 

An jenem Tag empfing ich in meiner Praxis eine junge Frau, die ihr erstes Kind erwartete. Obwohl sie aus einer guten Familie stammte schien es mir, als ob sie emotional sehr labil war. Sie musste sich anstrengen, um ihre Gefühle und nervösen Reaktionen zu beherrschen. Einen Monat vor der Geburt ergab eine Routineuntersuchung, dass das Baby in Steißlage lag. In jener Zeit lag die Sterbeziffer von Babys in Steißlage relativ hoch, weil man sich damals noch nicht so schnell für einen Kaiserschnitt entschied. Bei der Geburt kommt dann das Köpfchen des Kindes zuletzt aus dem Geburtskanal, und wenn dies nicht schnell genug geht, wird die Nabelschnur oft zu lange zwischen dem Schädel des Kindes und dem Becken der Mutter zusammengepresst. Sauerstoffmangel kann in wenigen Minuten zum Tode des Kindes führen.
Der Tag der Geburt brach an und jeder im Kreißsaal war verständlicherweise angespannt. Endlich war es dann soweit und ich zog sanft ein Füßchen nach draußen. Ich griff nach dem zweiten Füßchen, aber ich konnte es nicht finden, es lag nicht neben dem ersten Füßchen. Ich zog wieder, etwas stärker. Der Körper des Babys glitt etwas weiter herab, genug für mich um zu sehen, dass es ein Mädchen war. Und dann sah ich auch zu meiner Verblüffung, dass das zweite Füßchen nie neben das erste gleiten konnte. Der Oberschenkel fehlte. Das Füßchen hing hilflos auf der Höhe des Knies des guten Beines. Dieses kleine Mädchen würde damit leben müssen, es war eine seltsame Fehlbildung, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, und danach nie mehr sah! 

Nun folgte der schwerste Kampf, den ich je mit mir selbst ausgefochten habe. Ich wusste, welch schreckliche Folgen diese Geburt für die Mutter haben würde. Ich war mir sicher, dass die Familie helfen würde und jeden Orthopäden aufsuchen würde, der ihnen Hoffnung geben konnte. Und ich sah das Mädchen alleine sitzen, während alle anderen tanzten, rannten und spielten — und da wurde mir bewusst dass es in meiner Macht lag, dieses Unheil zu verhindern. Wenn ich mich nun nicht beeilte? Niemand auf der Welt würde es je wissen. „Mute ihnen dieses Leid nicht zu“, spornte mich eine verführerische „Stimme“ an. „Dieses arme Kind hat noch nicht geatmet, lass nicht zu, dass es je atmet“. Mein Entschluss stand fest. 


Nervös schaute ich auf die Uhr. Noch zwei oder drei Minuten würden genügen, dachte ich. Um den Eindruck zu erwecken, dass ich etwas tat, zog ich das Baby etwas weiter heraus, um die Arme zu befreien. Der nächste Schritt. In diesem Augenblick drückte das Baby seinen gesunden Fuß gegen meine Hand, jene Hand, die dazu bestimmt war, das Leben von Mutter und Kind zu achten. Und plötzlich: eine heftige Bewegung des Kindes, merkwürdig kräftig und lebendig. Das war zu viel. Ich konnte es nicht tun. Ich brachte das Baby mit seinem armen Füßchen zur Welt und teilte der Familie die schmerzliche Nachricht mit. 

Meine Vorahnungen bewahrheiteten sich. Die Mutter wurde mehrere Monate in ein Krankenhaus angenommen. Ich sah sie ein ~ zweimal: sie war nur ein Schatten ihrer selbst. Hin und wieder hörte ich etwas über die Familie, bis ich sie schließlich aus den Augen verlor. Mir blieb ein bitterer Nachgeschmack. 

Viele Jahre später erhielt die Geschichte während einer Weihnachtsfeier für die Angestellten, Pfleger und Ärzte des Krankenhauses noch eine Fortsetzung. Zwanzig unserer Pfleger sangen „Stille Nacht“, jeder mit einer großen, brennenden Kerze in der Hand. Sie wurden begleitet von drei schönen, jungen Musikantinnen in weißen Abendkleidern. Das Trio spielte Harfe, Cello und Geige. Ich war besonders von der jungen Harfenistin fasziniert. Sie hatte ein engelhaftes Gesicht, das von auffallend dichtem, kastanienbraunem Haar umgeben war. Ihre schlanken Finger berührten die Saiten besonders anmutig. Es klang so himmlisch schön. Einen Augenblick war die Welt vollkommen, ein heiliger Ort und ich bin sicher, dass ich nicht der einzige war, dessen Augen sich mit Tränen füllten. 

Nach dem Ende des Programms lief mir im Gang eine Frau mit ausgestreckten Armen entgegen. „Haben Sie sie gesehen?“ rief sie. "Sie müssen mein Baby wiedererkannt haben. Das war meine Tochter, die die Harfe spielte. Ich sah, dass Sie sie anschauten. Erinnern Sie sich nicht mehr an das kleine Mädchen, das vor siebzehn Jahren mit nur einem gesunden Bein geboren wurde? Sie hat ein künstliches Bein - aber das fällt niemandem auf, der sie sieht. Sie kann laufen, schwimmen und auch bald schon tanzen. Weil sie all diese Dinge jahrelang nicht gut konnte, lernte sie, ihre Hände besonders gut zu gebrauchen. Jeder sagt, dass sie es als Harfenistin weit bringen wird. Sie ist alles für mich und sie ist so glücklich ... hier ist sie!" Das junge Mädchen hatte uns gesehen und war unbemerkt herangekommen. Sie stand neben mir. Ihre Augen glänzten. „Dies ist dein erster Arzt, Liebling“, sagte ihre Mutter. Ihre Stimme bebte vor Bewegung. „Er war der erste, der mir von dir erzählte. Er war es, der dich mir gegeben hat.“ 

Impulsiv nahm ich das Kind in meine Arme. Über ihre Schulter schaute ich siebzehn Jahre zurück. Wieder sah ich die langsam tickende Uhr im Kreißsaal. Ich erfuhr wieder die schrecklichen Augenblicke, als ihr zartes Leben in meinen Händen lag und ich dieses kostbare Geschöpf fast ermordet hatte. Ich schaute sie gerührt an. „Geh bitte noch einmal an deine Harfe, und spiel noch einmal „Stille Nacht“, für mich, für mich allein. Ich trage eine Last auf meinen Schultern, die nie jemand gesehen hat, und du kannst sie wegnehmen.“ 

Ihre Mutter saß neben mir und nahm still meine Hand in ihre Hand als ihre Tochter spielte. Vielleicht wusste sie, was in mir vorging? Und als die letzten Töne verklungen waren, fand ich endlich die Antwort, nach der ich so lange gesucht hatte, und den Frieden, auf den ich so lange gewartet hatte.

Pro Vita – Leben & Familie, A. Gnadenstraat19, 2800 Mechelen, zweimonatliche Informationsblatt, - 27. Jahrgang – Nr. 221 – November-December 2014

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